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Talentklasse für Köchinnen und Köche

Bild: Sophie Stieger
erwachsenenbildung.ch
Mai 2019

In der Berufsbildung sind es vor allem die Betriebe, die begabte Lernende gezielt fördern. Letzten Sommer startete an der Allgemeinen Berufsschule Zürich ein schweizweit einmaliges Projekt: die Talentklasse für Köchinnen und Köche.

Sie koche unheimlich gern, erzählt Vanessa Orlando. Trotzdem wusste sie lange nicht, was sie lernen sollte. «Beim Schnuppern in verschiedenen Küchen hat es mir dann total gefallen.» Darum absolviert die 16-Jährige heute eine Ausbildung als Köchin. Auch Jill Billeter hegt eine Leidenschaft fürs Kochen. Was man aus einem einzigen Lebensmittel alles machen kann, fasziniert sie. «Meine Eltern sagen, ich hätte bereits als Dreijährige verkündet, dass ich einmal Köchin werden wollte.» Adrin Angele wiederum erklärt: «Schon als Kind habe ich am liebsten mit der Spielzeugküche gespielt.» Darum schaute er als Fünftklässler am Zukunftstag einem Koch bei der Arbeit über die Schulter. Dies hat seine Berufswahl besiegelt.

Heute stehen die drei Jugendlichen im ersten Lehrjahr und besuchen die Allgemeine Berufsschule Zürich (ABZ). Und seit Beginn des Frühlingssemesters sind sie in der Talentklasse für lernende Köche und damit so etwas wie Pioniere, handelt es sich doch um den ersten Jahrgang, der von diesem Angebot profitiert. Die geistigen Väter des Pilotprojekts heissen Andrea Hanselmann und Alexander Wilhelm, sind Berufskundelehrer und Co-Leiter der Berufsgruppe Koch. Seit Jahren beobachten sie, wie stark das Leistungsspektrum in den Klassen auseinanderfällt – mehr als in manch anderem Beruf. «Für die einen ist Koch der absolute Traumberuf, für die anderen ein Notnagel, weil sie keine andere Lehrstelle gefunden haben», stellt Andrea Hanselmann fest. Dies führe dazu, fährt Alexander Wilhelm fort, dass die motivierten Lernenden in der Schule stark unterfordert seien. «Und solche Jugendlichen springen nach der Lehre häufig ab und wechseln den Beruf.»

Mehr als einmalige Zückerchen

Vor fünf Jahren starteten die beiden Lehrer deshalb ein Projekt, das besonders talentierten Lernenden im letzten Ausbildungsjahr ein Praktikum bei einem Spitzenkoch im In- oder Ausland ermöglichte. Dies wirkte zwar durchaus als Motivationsspritze, trotzdem war den Berufsgruppeleitern damals schon klar, dass die Lösung nicht in einem einmaligen «Zückerchen» liegen konnte, sondern dass begabte und leistungswillige Lernende ein regelmässigeres Angebot benötigten. Mit der Talentklasse wurde ein Rezept gefunden, von dem sie sich viel erhoffen. Die Idee: Der Schulstoff wird in drei Vierteln der üblichen Zeit vermittelt, die so gesparte Zeit – sechs bis zehn Tage pro Schuljahr – stehen für fachliche Vertiefungen in Form von Exkursionen, Referaten und anderem mehr zur Verfügung. «Da diese Jugendlichen einen starken Willen haben, voranzukommen, und auch bereit sind, sich gegenseitig zu unterstützen, können wir im Unterricht effizienter arbeiten», sagt Andrea Hanselmann«gleichzeitig werden wichtige soziale Kompetenzen gefördert. Teamarbeit etwa ist in diesem Beruf zentral. Man arbeitet mit so vielen Menschen zusammen und auch für Menschen.»

Gebildet wird die Talentklasse gegen Ende des ersten Semesters des ersten Lehrjahrs. Ausgewählt werden die 16 bis 18 Lernenden aufgrund der Empfehlungen ihrer Berufsbildner und ihrer Lehrpersonen sowie eines Motivationsschreibens. Es zählen nicht nur die schulischen Leistungen, sondern auch die praktische Begabung und die Begeisterung. Wer diese Hürde geschafft hat, ist jedoch nicht automatisch bis zum Ende der Ausbildung Talentschüler: Per Ende jedes Semesters können Aus- und Eintritte erfolgen. Dies ist den beiden Leitern wichtig: «Spätzünder sollen auch die Möglichkeit haben, von dem Programm zu profitieren », betont Alexander Wilhelm, «umgekehrt sollen jene, die bereits drin sind, wissen, dass eine gewisse Leistung erforderlich ist, um zu bleiben.» Selbstverständlich sind auch freiwillige Wechsel nicht ausgeschlossen, wer sich zu sehr unter Druck fühlt, soll nicht durchbeissen müssen bis zum Abschluss. Dieser wird zwar zum gleichen eidgenössischen Fähigkeitszeugnis führen wie bei allen anderen Kochlernenden, die Talentschüler sollen darüber hinaus aber noch ein zusätzliches Zertifikat oder Zeugnis erhalten, das sie als solche ausweist.

Wer die vollen zweieinhalb Jahre durchläuft, erhält zahlreiche Einblicke in Themen und Bereiche, die den Horizont erweitern und zeigen, «dass es noch mehr gibt als das aktuelle Umfeld». Das Konzept sieht ausserdem einen klaren Aufbau vor: Im ersten Jahr geht es um die Produkte, im zweiten um die Produktion, im dritten um das Sammeln von Erfahrungen und den Aufbau eines persönlichen Netzwerks. Im Juni besuchen die Lernenden beispielsweise während dreier Tage die landwirtschaftliche Schule in Landquart. Diesen Sommer kochen sie an den Rennen von Aston Martin. Ein anderes Mal beteiligen sie sich an Kochkursen der Kochnationalmannschaft. Auch bringen ihnen Forscher der Zürcher Hochschule der Angewandten Wissenschaften (ZHAW) die Lebensmittelsensorik näher, also die hohe Kunst der Bewertung von Lebensmitteln mithilfe der Sinnesorgane.

Praktikum als Höhepunkt

Da an den klassischen Schultagen nur noch Allgemeinbildender Unterricht (ABU) und Berufskunde auf dem Stundenplan stehen und die Sportlektionen in fünf halben Tagen zusammengefasst wurden, ist vermehrt Blockunterricht angesagt. Die ABU-Lehrerin Heidi Giger kann so ihren Unterricht mit externen Aktivitäten verknüpfen und den Lernenden zum Beispiel den Auftrag erteilen, während einer Besichtigung Interviews mit Fachpersonen vor Ort zu machen. Auch Sportlehrer Stefan Stamm ist involviert, etwa bei Themen wie Gruppendynamik, Sporternährung oder Energieverbrauch. Damit ist Interdisziplinarität ein weiteres Plus des Konzepts. Und was einst den Anfang machte – die Praktika –, bildet nun den Höhepunkt des Programms. Dank der Stages sollen die Jugendlichen, die selbst vielleicht eine solche Karriere anstreben, erfahren, was Spitzengastronomie heute bedeutet, nämlich Kreativität und Renommée einerseits und Knochenarbeit andererseits. «Ausserdem», sagt Alexander Wilhelm, «hat man mit einem solchen Praktikumszeugnis sicher Chancen auf eine gute Stelle nach der Ausbildung.»

Nicht, dass man an der ABZ nun lauter Caminadas heranziehen wolle, relativiert Andrea Hanselmann. Vielmehr gehe es darum, die leistungswilligen und interessierten Jugendlichen in ihrer Leidenschaft zu stützen und diese weiter anzukurbeln. Und natürlich auch darum, ihnen zusätzliches Wissen zu vermitteln und dabei zu helfen, ein berufliches Netzwerk für ihre Zukunft aufzubauen. Dabei bewahrt man sich im Moment noch eine gewisse Flexibilität, schaut, was sich bewährt, erörtert mit den Lernenden regelmässig ihr Befinden. Natürlich wird das Projekt evaluiert, doch angesichts des Engagements, das die Talentschülerinnen und -schüler an den Tag legen, sind die beiden Verantwortlichen jetzt schon überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein.

Am gleichen Strick ziehen

Für Adrin Angele jedenfalls stimmt er. In seiner ursprünglichen Klasse sei die Hälfte seiner Kameraden ziemlich unmotiviert gewesen. «Ich möchte aber seriös an die Sache herangehen und etwas lernen. » In der Talentklasse machten sich die Schüler zum Beispiel gleich an die Arbeit, wenn sie einen Auftrag erhielten, da werde nicht noch lange herumgekaspert. «Zudem arbeiten wir oft in Gruppen, und wenn alle ernsthaft mitmachen, hat man nachher ein besseres Ergebnis. Man ist auch motivierter, wenn alle am gleichen Strick ziehen.» Sicher sei der Druck höher, auch im Betrieb seien die Erwartungen gestiegen. «Da muss ich manchmal schon daran erinnern, dass ich trotz Talentklasse immer noch im ersten Lehrjahr bin.» Er selbst möchte jedoch einer der besten sein und später in verschiedenen Ländern als Koch arbeiten. «Und sicher auch einmal in einem Gourmetrestaurant, wo man immer wieder Neues ausprobieren kann.»

Hin- und hergerissen

Jill Billeter findet die Talentklasse «sehr speziell». Dass man oft selbst dafür besorgt sein müsse, zu den benötigten Informationen zu kommen, fordere sie ziemlich. «Ich bin eher der Typ, der es schätzt, einer Lehrperson zuzuhören und mir Notizen zu machen.» Gleichzeitig möchte sie aber nicht zum Durchschnitt gehören und fühlte sich in der alten Klasse unterfordert. Ihre Stärken sieht sie vor allem beim Praktischen, trotzdem sind ihr die Schulnoten sehr wichtig – sie dürften auf keinen Fall unter dem höheren Tempo leiden. Sie möchte es auch weit bringen, zum Beispiel auf einem Kreuzfahrtschiff arbeiten, in einem Edelrestaurant oder einer gehobenen Hotelküche, sich vielleicht gar einen Namen in der Gastronomieszene machen. «Im Moment bin ich hin- und hergerissen, ob ich bleiben oder in meine alte Klasse zurückkehren soll», verrät sie. Vor allem vermisst sie ihren dortigen Berufskundelehrer, der so viel Spannendes erzählt habe, ohne dass man ihn hätte fragen müssen.

Für Vanessa Orlando gibt es nichts zu überlegen: Ihr macht die Schule nun viel mehr Spass. «Man kann über das Gleiche reden und es geht vorwärts.» Klar: Sie müsse mehr Gas geben, die Verkürzung der Unterrichtszeit stelle für sie eine Herausforderung dar. «Bis jetzt habe ich aber noch nie das Gefühl gehabt, es nicht zu schaffen.» Sie freut sich jetzt schon auf ihren Einsatz an einem Autorennen im Juli. «Eine solche Gelegenheit erhält nicht jeder, von solchen Dingen profitiert man enorm.» Später möchte sie zunächst mithilfe von Saisonstellen Einblick in möglichst viele unterschiedliche Betriebe nehmen. Auch einem Spitzenrestaurant ist sie nicht abgeneigt. Auf jeden Fall will sie im Beruf bleiben. «Als Köchin kann ich immer wieder neue Dinge lernen. Koch ist sicher einer der vielfältigsten Berufe.»

 

Foto: Sophie Stieger